
Ein Interview mit Klaus Brüggemann, das der ehemalige Hertha-Aufsichtsratsvorsitzende (e.V.) offenbar kurz nach der Mitgliederversammlung im November 2024 gegeben hat, ist Mitte Januar veröffentlicht worden. Eigentlich gibt es wenig Gründe über den Mann, der seit mehr als einem Jahr ohne Funktion im Verein ist, zu schreiben, aber da auffallend viele gescheiterte Präsidentschafts-Kandidaten auf der letzten MV Kontakte zu Brüggemann haben, ist es doch interessant, hier einmal genauer hinzuschauen, vor allem, da Brüggemann im Interview die MV und ihre Form kritisiert.
Direkt Eingangs zitiert Brüggemann vergnügt einen RBB-Reporter, der die MV als Freak-Show bezeichnet. Dann kommt er zu seinem eigentlichen Thema: Hybride Wahlen, also Wahlen, bei denen die Mitglieder vor Ort und an digitalen Endgeräten abstimmen können. Er sagt wörtlich: „Solange keine hybriden Wahlen möglich sind, kommen nur die organisierten Fans zu einer MV. […] Hybride Wahlen sind basisdemokratisch. […] Man muss sich sogar die Frage stellen, ob das [die bisherige Form der Wahlen] nicht ein Stück weit gegen 50+1 verstößt, eben wegen Mitsprache verstößt, weil es geht ja nicht um ideologische Parteilichkeiten, es geht um den Feuerwehrmann, um die Polizistin, um die Krankenschwester, die an dem Tag arbeiten möchte, die Hertha-Mitglied ist.“ Und dann schließt er das Thema, wie man das heutzutage macht, wenn man keine Argumente hat, man wirft der anderen Seite Ideologie vor: „Und so setzen sich Ideologien durch.“
In den Aussagen steckt der Sound, den er bereits in seiner Zeit als Verantwortlicher bei Hertha über lokale und überregionale Medien hat weit verbreiten lassen: Die Hertha-MV sei nicht demokratisch und folglich war auch die Wahl von Kay Bernstein nicht demokratisch legitimiert. Überhaupt würden nur die Ultras zur MV gehen, die haben nämlich immer Zeit und mit ihrer ganzen Ideologie würden sie allein den Ausgang der Wahlen entscheiden. Normalen Mitglieder scheint es nahezu unmöglich zu sein, an einer MV teilzunehmen. Und als vermeintlich einziges Argument, als Strohmann-Argument, müssen bei Brüggemann an der Stelle dann die auch von Politker:innen vielzitierten Angestellten in systemrelevanten Berufen herhalten.
Rückblick: Brüggemann und Demokratie
Weil seine Amtszeit schon ein paar Tage her ist, schauen wir nochmal kurz zurück, wie Demokratiefreund Klaus Brüggemann sein Amt bei Hertha ausgefüllt hat. Den einflussreichsten Posten bei Hertha hatte Brüggemann als Aufsichtsratsvorsitzender des eingetragenen Vereins. Die Mitglieder des Aufsichtsrates wählt die MV. Auf der MV Ende Mai 2022 wird Brüggemann mit 1.347 der 2.313 gültigen Stimmen gewählt. Das sind knapp 58%. Klaus Brüggemann hatte damit nur die viertmeisten Stimmen. Vor ihm lagen noch Andreas Schmidt (2.172 Stimmen), der bisherige Vorsitzende Torsten Klein (1.721) und Scott Körber (1.356). Nach der MV schafft es Brüggemann in einer Abstimmung innerhalb des Gremiums irgendwie zum Aufsichtsratsvorsitzenden. Wie ist nicht bekannt. Aber er nutzt die neue einflussreiche Position, um direkt für die nächste MV einen Monat später Frank Steffel als Hertha-Präsidenten vorzuschlagen. Im Hertha-Umfeld ist man darüber überrascht, wie offensiv Brüggemann seine Rolle im Aufsichtsrat, das eigentlich ein Kontrollgremium ist, spielt.
Der Ausgang der Präsidenten-Wahl ist bekannt. Kay wird mit 1.670 von 3.016 gültigen Stimmen gewählt. Brüggemanns Kandidat Steffel, der die MV mit einem Parteitag verwechselt, unterliegt. Brüggemann poltert anschließend in der Springer-Presse, Kays Wahl wäre undemokratisch, weil zu wenige Mitglieder anwesend gewesen seien. Bei seiner eigenen Wahl nur vier Wochen vorher und mit knapp 1/3 weniger anwesenden Mitgliedern war die niedrige Anwesenheit für Brüggemann noch kein Problem. Brüggemann, der bereits als Geschäftsführer in Babelsberg die Fans gegen sich aufbrachte und am Ende einzelne wegen Verleumdung verklagte, hat nach diesen Aussagen auch ein Problem mit Hertha-Fans.
Auf der Herbst-MV gibt es einen Abwahlantrag gegen Brüggemann. Die Mehrheit (51,6%) der anwesenden Mitglieder stimmt der Abwahl zu. Brüggemann bleibt im Amt, weil die satzungsgemäß notwendigen 75% verpasst werden. Kurz vor der gescheiterten Abwahl versucht ein noch junges Hertha-Mitglied mit einem Gegenantrag in letzter Minute Brüggemanns Entlassung zu verhindern. Der Name des Mitglieds: Uwe Dinnebier. Zwei Jahre später selbst ein unrühmlicher Präsidentschafts-Kandidat auf einer Hertha-MV. Auch Unternehmer Stepan Timoshin scheitert krachend. Timoshin und Brüggemann stehen in geschäftlicher Beziehung, wie der Spiegel kurz vor der Wahl berichtet. Das ist die MV, über die Brüggemann im Eingangs genannten Interview breitbeinig feixt, sie wäre eine Freakshow.
Die Hertha-Mitgliederversammlung hat drei Wunschkandidaten von Brüggemann gewogen und für zu leicht befunden. Anwesende vor Ort, auf den jeweiligen MVs, konnten nachvollziehen, warum die drei Kandidaten nicht gewählt wurden. Der skandalbehaftete Frank Steffel hat sich im Ton vergriffen und konnte nicht den Eindruck widerlegen, dass ihm der Posten wichtiger war, als der Verein. Uwe Dinnebier hat sich mit seiner Scharade um den Brief, der die Millionen-Investoren enthalten sollte, selber entzaubert. Die MV wollte ihm nicht folgen, dass die Bowling World Germany einer der neuen Retter sein sollte. Und Stepan Timoshin wollte nicht nur den Fuffie zu Beginn seiner Rede anzünden, er hätte auch den gesamten Verein angesteckt. Man kann also zu dem Schluss kommen, dass die Mitglieder auf der MV verantwortungsvoll gehandelt haben, indem sie die drei Personen nicht gewählt haben. Anders Klaus Brüggemann. Er akzeptiert das Votum der Mitglieder nicht. Schlimmer noch: Er stellt die MV an sich und ihre Legitimierung in Frage, weil ihm das Ergebnis nicht passt. Und das ist verantwortungslos, falsch und gefährlich.
Manipulationsgefahr und andere dunkle Seiten digitaler Abstimmungen
Digitale Abstimmungen scheinen besonders für Mitglieder, die nicht physisch an der Mitgliederversammlung teilnehmen können, eine sehr gute Idee zu sein. Das leuchtet zuerst ein. Niemand kann ernsthaft etwas dagegen haben, wenn so viele Mitglieder wie möglich an den Abstimmungen teilnehmen können. Aber was auf den ersten Blick modern und fortschrittlich wirkt, birgt immense Gefahren für die Integrität der Wahlen und für die Integrität unseres Vereins. Selbst bei aktuellen Programmen und Verschlüsselungstechnologien sind Sicherheitslücken nicht vollständig auszuschließen. Hacker könnten sich Zugang zu sensiblen Daten verschaffen und unbemerkt das Abstimmungsergebnis manipulieren.
Deshalb rät der Chaos Computer Club seit Jahren dringend davon ab, Wahlcomputer oder Wahlsoftware zu benutzen. Erst auf dem letzten Chaos Computer Congress Ende Dezember 2024 wurde erneut festgestellt, dass heute in Deutschland eingesetzte Wahlsoftware in vielen Punkten weiterhin nicht den Anforderungen von IT-Sicherheitsexperten genügen würde. Als jüngstes Beispiel, was bei Wahlsoftware alles schief gehen kann, nennt der CCC die Landtagswahl in Sachsen 2024, bei der die eingesetzte Software die Sitzverteilung des Landtages falsch berechnet hatte. Der Fall zeigt auch die Vielfalt der Angriffsvektoren auf so eine Wahl: Es gibt sehr viele Stellen, an denen Manipulation stattfinden kann, selbst wenn die Übertragung der Stimmen sicher und anonym vonstatten ging.
Zusätzlich zu den ungelösten Sicherheitsproblemen gibt es rechtliche Bedenken, Bedenken über technologische Zugangshürden und Bedenken über die Beeinflussung durch Dritte. In Deutschland sind Online-Wahlen bei politischen Wahlen verboten, da das Wahlgeheimnis und die sichere Übertragung der Stimmen nicht immer vollständig gewährleistet werden können. Auch die technische Ungleichheit spielt eine Rolle: Nicht jedes Mitglied hat gleichberechtigten Zugang zu den notwendigen Technologien oder dem Internet, was zu einer Verzerrung der Wahl führen kann, wenn Mitglieder oder Mitgliedergruppen zum Beispiel im Moment der Wahl Probleme mit dem Internet haben. Oder die Server die Last der Teilnehmenden nicht aushalten. Eine Situation, die regelmäßigen Besuchern der Online-Shops von Hertha durchaus bekannt vorkommt.
Die fehlende physische Kontrolle ist ein weiterer Aspekt: In einer traditionellen Wahl können Wahlhelfer und Wahlbeobachter die Vorgänge überwachen, um sicherzustellen, dass alles korrekt abläuft. Bei einer Online-Wahl gibt es keine Möglichkeit, in Echtzeit zu überprüfen, ob Manipulationen stattfinden oder ob jemand unter Druck gesetzt wird, seine Stimme abzugeben.
Die jüngere Vergangenheit unseres Vereins mahnt uns zur Wachsamkeit. Es gab und gibt Menschen, die genügend kriminelle Energie aufbringen, um Prozesse im Verein und die Meinung der Mitglieder zu manipulieren. Man kann nicht viel Gutes über die Zeit von Lars Windhorst sagen, aber immerhin kann er uns ein mahnendes Beispiel sein. Er engagierte für mehrere hunderttausend Euro ehemalige israelische Geheimagenten, um den damaligen Präsidenten Werner Gegenbauer loszuwerden. Die Methoden der Israelis: Fake Accounts auf Social Media und (was in der Berichterstattung damals zu kurz kam) ein Netzwerk aus engagierten Hertha-Mitgliedern, die in ihrem Sinne Druck auf Gegenbauer aufbauen sollten. Die Scharade flog nur deshalb auf, weil Windhorst ein notorisches Problem damit hat, Rechnungen zu bezahlen. Wer weiß, wie weit die Israelis noch gegangen wären.
Viele Menschen sind zurecht skeptisch gegenüber der Sicherheit und Verlässlichkeit von Online-Systemen, insbesondere in so wichtigen Angelegenheiten wie Wahlen. Das Vertrauen in den Wahlprozess könnte durch die Einführung von Online-Wahlen erheblich sinken.
Die bisherige Form der Präsenz-MV funktioniert
Zurück zu Klaus Brüggemann. Für ihn funktioniert die MV nicht, weil andere Kandidaten gewählt wurden, als er das vielleicht gerne gehabt hätte. Breitbeinig sitzt er da in dem Interview und freut sich über die vermeintliche Freakshow. Dabei verantwortet die Absurdität der Veranstaltung nicht die Mitgliederversammlung, sondern der Aufsichtsrat, der die Kandidierenden für die MV zulässt. Und vielleicht sogar ein Stück weit Brüggemann selber, wenn man zumindest den ganzen Verknüpfungen nachgeht, die er zu den gescheiterten Kandidaten hatte.
Betrachtet man die beiden Kandidaten Dinnebier und Timoshin vor der MV, haben beide respektable Kampagnen hingelegt. Der erste war in der Presse überaus souverän und präsent. Der Geschäftsmann, der alles unter Kontrolle hat. Der andere hat sich auf Social Media ordentlich ins Zeug gelegt und Unmengen an Merchandise an Spieltagen verschenkt. Ohne den Eindruck auf der MV könnte man denken, das wären ordentliche Kandidaten gewesen.
Erst die Mitgliederversammlung hat gezeigt, dass die beiden heiße Luft sind. Durch Hartnäckigkeit und Nachfragen der Mitglieder wurde nach und nach offengelegt, dass der eine keine großen Investoren hinter sich hatte und der andere keinen Plan, außer alle Lowperformer und Beta-Males rauszuwerfen. Keiner von beiden ist länger als zwei Jahre Mitglied im Verein. Keiner hat den richtigen Ton getroffen. Keiner kennt den Verein.
Die MV tat gut daran, sie nicht zu wählen. Die Präsenz-MV funktioniert.
Hertha hat von allen deutschen Profivereinen regelmäßig die höchste Präsenz von Mitgliedern auf den MVs. Es zeigt sich nicht nur hier: Hertha-Mitglieder sind hart (natürlich!), engagiert und leidensfähig. Nur ein Hertha-Fan sitzt acht Stunden und länger ohne Verpflegung mit 3.000 anderen Atzen auf unbequemen Stühlen und stellt auch dem 31. Präsidiums-Kandidierenden Fragen nach 50+1. Weil es wichtig ist.
Dabei ist diese Versammlung an einem Ort, von dem niemand weg kann, wichtig für den Verein. Hier vernetzt man sich. Spricht in den Pausen mit anderen Fans und Mitgliedern. Kommt mit Initiativen und Spieler:innen in Kontakt. Kann Verantwortliche aus KGaA und e.V. sprechen. Kein Ort ist mehr für den Austausch gemacht, wie es mit dem Verein weitergeht, wie eine MV. Möglichkeiten der Meinungsbildung, die es für Menschen am Bildschirm gar nicht gibt, wenn die überhaupt so lange dran geblieben sind und nicht zur Formel1 gewechselt haben.
Die MV funktioniert. Man sperrt ein paar tausend Leute in einen Raum. Gibt ihnen Zeit, sich alle Kandidaten gleichberechtigt anzuhören. Gibt jedem Mitglied die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Gibt ihnen Zeit für den Austausch ohne Social Media und es kommt eine aufgeklärtere Entscheidung heraus als bei jeder Bundestagswahl.
Wir sind die MV. Die MV ist der Verein.
Die Mitgliederversammlung ist das höchste Gremium unseres Vereins. Wahlen sind ein hohes demokratisches Gut. Wir, die Mitglieder haben die Wahl. Das gilt es zu bewahren. Wir dürfen nicht zulassen, dass unser Verein durch Online-Abstimmungen oder virtuelle Wahlen in die Hände weniger Mächtiger fällt. Die Risiken, die durch Manipulation, Stimmenkauf und fehlende Kontrolle entstehen, sind einfach zu hoch.
Die Wünsche der Exilherthaner:innen sind verständlich. Auch sie wollen sich einbringen. Auch sie wollen wählen. Aber die Risiken sind zu hoch, um das höchste Gremium unseres Vereins in seiner Wirkkraft zu reduzieren. Es ist wichtig, dass die Mitglieder eine direkte Verbindung zum Vereinsgeschehen haben, um fundierte Entscheidungen treffen zu können. Ein übermäßiger Einfluss von außerhalb könnte den inneren Zusammenhalt gefährden und das Vertrauen in die Gremien schwächen. Es liegt an uns, dass Hertha BSC ein Verein bleibt, der von uns, von den Mitgliedern, geführt wird. Wir sind der Verein.
Den Ausführungen über Klaus Brüggemann stimme ich vollumfänglich zu. Doch unabhängig davon besteht ein vielfach geäußerter Wunsch von Mitgliedern, die nicht in Präsenz an der Mitgliederversammlung teilnehmen können, dennoch digital dabei zu sein und ihre Mitgliedsrechte – einschließlich der Wahl – wahrzunehmen. Eine digitale oder, genauer gesagt, hybride Wahl könnte, wie im Beitrag erwähnt, eine ‚sehr gute Idee‘ sein. Leider folgen in der Argumentation gegen digitale Abstimmungen dann jedoch einige Punkte, die ungenau oder falsch dargestellt werden. Eine Auseinandersetzung mit Sachverhalten, wie digitale Wahlen den demokratischen Prozess möglicherweise verbessern können, findet überhaupt nicht statt. Daher möchte ich einige Punkte aufgreifen, richtigstellen und ergänzen.
Falsche Vergleiche mit staatlichen Wahlen
Der Artikel verweist auf den Chaos Computer Club (CCC) und dessen Kritik an in Deutschland eingesetzter Wahlsoftware. Dies ist jedoch ein Strohmannargument. Der CCC fordert keine Abschaffung von Software bei Wahlen, sondern vielmehr deren Transparenz. Zudem geht es in der Kritik des CCC nicht um digitale Wahlen, sondern um die elektronische Auszählung bei Präsenzwahlen. Wer mit staatlichen Wahlen argumentieren möchte, darf funktionierende Beispiele wie Estland nicht ignorieren. Dort gibt es seit Jahren ein sicheres und etabliertes Online-Wahlsystem. Ein umfassender Bericht dazu findet sich etwa unter https://www.golem.de/news/digitalisierung-warum-wir-in-deutschland-nicht-online-waehlen-werden-2502-193338.html.
Ebenso ist eine Wahl in einem Verein weniger mit staatlichen Wahlen, sondern vielmehr mit denen in privatwirtschaftlichen Unternehmen vergleichbar. Hier sind digitale Wahlen spätestens seit der Pandemie üblich. Verschiedene Firmen bieten mittlerweile Softwarelösungen an, die den Anforderungen demokratischer Wahlen gerecht werden und beispielsweise auch von Aktiengesellschaften genutzt werden, bei denen oft weitaus mehr Menschen abstimmen als auf einer Hertha-Mitgliederversammlung.
Rechtliche Situation: Digitale Wahlen sind nicht verboten
Ein weiteres genanntes Argument gegen digitale Wahlen ist deren angebliche rechtliche Unzulässigkeit in Deutschland. Das ist so nicht korrekt. Online-Wahlen sind bei politischen Wahlen in Deutschland nicht grundsätzlich verboten. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil (BVerfG, 2 BvC 3/07, https://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/cs20090303_2bvc000307.html) lediglich hohe rechtliche Hürden formuliert, die beachtet werden müssen. Dass dies jedoch möglich ist, zeigt das Beispiel Estland, wo digitale Wahlen rechtssicher durchgeführt werden.
Fehlgeleitete Sicherheitsbedenken
Der Artikel verweist auf Sicherheitsrisiken digitaler Wahlen. Natürlich sind Sicherheitsaspekte wichtig, doch moderne Technologien bieten mittlerweile ein hohes Maß an Schutz. Anders als im AKJ-Artikel dargestellt, könnten digitale Wahlen sogar die Erkennung und Verhinderung von Manipulationen erleichtern. Verifizierbare Wahlprotokolle ermöglichen es den Wählern beispielsweise, ihre abgegebene Stimme zu überprüfen, ohne das Wahlgeheimnis zu gefährden. Auch Server-Abstürze als Gegenargument anzuführen, ist irreführend – die genannten Softwarelösungen werden von Unternehmen mit zehntausenden bis hunderttausenden Wählern genutzt und sind entsprechend robust.
Mängel bei Präsenzwahlen
Die romantische Verklärung des bisherigen Wahlverfahrens ist der Sache nicht dienlich. Wer in den vergangenen Jahren an Hertha-Mitgliederversammlungen teilgenommen hat, weiß, dass dort Unregelmäßigkeiten an der Tagesordnung sind. Wahlunterlagen werden nicht konsequent eingesammelt, Wahlhelfer akzeptieren, dass eine Person mehrere Wahlzettel einwirft, und manche Mitglieder reichen ihre Stimmzettel weiter, bevor sie die Veranstaltung verlassen. Manipulationen sind also keineswegs auf digitale Wahlen beschränkt.
Demokratische Legitimation und Teilhabe
Präsenzveranstaltungen bieten eine wichtige Plattform für den direkten Austausch, können aber auch die Dominanz bestimmter Gruppen fördern. Hertha BSC hat leidvolle Erfahrungen damit gemacht, dass Wortbeiträge mit abweichender Meinung lautstark niedergebuht und unterdrückt wurden. Eine faire Diskussion, in der Argumente ausgetauscht werden, fand nicht immer statt. Bei der Abstimmung über die Stadionstandort-Frage wurden Mitglieder, die nicht im Sinne bestimmter Gruppen abstimmen wollten, sogar bedroht.
Demokratie bedeutet, dass jedes Mitglied wählen darf. Die Behauptung, dass nur Mitglieder mit „direkter Verbindung zum Vereinsgeschehen“ mitbestimmen sollten, ist nicht demokratisch.
Wichtig ist dabei, dass eine digitale Wahl niemanden zwingt, sich ausschließlich online zu beteiligen. Auch hybride Modelle – also eine Kombination aus Präsenz- und Online-Wahl – sind denkbar, um den unterschiedlichen Bedürfnissen der Mitglieder gerecht zu werden.
Ebenso wenig bedeutet eine digitale Wahl, dass Mitglieder die Versammlung nicht verfolgen müssten. Wahlgänge werden im Rahmen der Tagesordnung eröffnet und geschlossen – wer das Geschehen nicht aktiv verfolgt, wird also höchstwahrscheinlich den Wahlgang verpassen.
Andererseits kann auch schon heute jedes anwesende Mitglied abstimmen, ohne aktiv der Debatte zu folgen. Die Entscheidung, ob man sich intensiv mit den Argumenten auseinandersetzt oder nicht, liegt immer beim Einzelnen – unabhängig vom Wahlverfahren.
Fazit: Mehr Demokratie wagen
Digitale Wahlen sind keine perfekte Lösung – Sicherheitsbedenken und mögliche Manipulationsrisiken sind ernst zu nehmen und dürfen nicht leichtfertig beiseitegeschoben werden. Doch über allem steht die Frage, wie die demokratische Teilhabe verbessert werden kann. Das derzeitige Präsenzwahlverfahren ist keineswegs fehlerfrei und schließt viele Mitglieder faktisch von der Mitbestimmung aus.
Der entscheidende Punkt ist also nicht, ob digitale Wahlen vollkommen risikofrei sind – sondern ob es Wege gibt, Sicherheitsbedenken auszuräumen und Manipulationsmöglichkeiten auszuschließen. Wenn dies gelingt, können digitale Wahlen eine sinnvolle Option sein, um mehr Mitgliedern die Ausübung ihrer Rechte zu ermöglichen und damit die demokratische Legitimation der Vereinsentscheidungen zu stärken. Anstatt den Status quo zu verklären, sollte die Diskussion daher konstruktiv geführt werden: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit eine digitale Wahl eine faire, transparente und sichere Alternative darstellt? Welche anderen Möglichkeiten könnte es geben, mehr Mitglieder zu beteiligen? Wer wirklich für Demokratie eintritt, sollte sich diesen Fragen nicht verschließen.