
Die vielbeschworene Hertha-Familie ist sauer, zumindest wenn man den Kommentaren auf Social Media glaubt. Da wird die Trainerentlassung gefordert, mit Austritten gedroht und überhaupt sind alle inkompetent. Ja, das sportliche Mittelmaß, es schmerzt.
Aber da war doch noch was: Der formulierte Anspruch, ein Verein für ganz Berlin zu sein, eine Familie, die zusammenhält. Do you remember the Time? Hertha ist mehr als die 1. Mannschaft der Männer. Beim Spiel gegen Kaiserslautern (Schmerzpunkt) war auf den Screens des Olympiastadions ein Einspieler zu sehen, der die Zuschauer*innen darauf hinwies, dass es wichtig ist, wählen zu gehen. Jetzt werden die einzelnen Beiträge auf Social Media ausgespielt, Fabian Drescher machte den Anfang. Das Video ist bare minimum Demokratie, Inhalt: geht wählen, danke. Aber es triggert emotionalisierte Herthaner, die nach ihren Wut-Postings über krasse Kompetenzüberschreitung unseres Präsidenten erstmal Transfermarkt checken, denn politisch darf der Verein nur dann sein, wenn er erfolgreich spielt und MagicMario_2001 kann die Situation gut beurteilen, weil er auf seinem Profilbild die Fahne küsst. Was erlauben Drescher (Trappatoni-Voice)?
Zwei Wochen vor der Bundestagswahl sitzen AfD-Politiker in jeder Talkshow und flirten mal mehr und mal weniger offensiv mit der CDU, wobei die ersten Avancen ja eindeutig vom Privatjetbesitzer aus dem Sauerland ausgingen, Stichwort: Brandmauer. Die gibt es ja zumindest in der Theorie noch, praktisch hat Scholz mit seinem Spiegelcover schon längst den Meißel angesetzt, nur dass diesmal niemand die Stücke aufheben möchte, das war 89 noch anders, als in Deutschland das letzte Mal eine Mauer fiel. Wir kommen über den Flügel, die Mitte ist gut zugestellt, verteidigt wird sie leider nicht. Vielleicht sitzen Weidel und Merz bald in trauter Zweisamkeit auch in unserem Stadion auf den exklusiven Plätzen und schmücken sich mit den Farben, die wir tragen. Küsschen links, Küsschen rechts, ich trag heut was Scharfes.
Wählen gehen ist in Deutschland ein demokratischer Akt für alle, die dürfen. Es dürfen aber gar nicht alle, denn viele Menschen, die hier schon lange leben und Steuern zahlen, haben kein Mitbestimmungsrecht. Grundsätze der Stimmabgabe sind unmittelbar, frei, gleich und geheim, was heißt, dass jede*r Deutsche über 18 sich selbst überlegen kann, ob, wie und wen er*sie im Parlament sehen möchte. Heißt: Unsere Wahlen sind demokratisch, aber die Kandidat*innen müssen es nicht sein und das ist jetzt wirklich wichtig! Denn Menschen, die demokratisch gewählt werden, können in einer Demokratie eben diese trotzdem abschaffen. Ja, wir haben eine Verfassung und ja, wir haben Gesetze und Gerichte, die diese umsetzen, aber habt ihr mal in die USA (Musks Bruderkuss mit Trump), in die Geschichtsbücher (Stichwort 1933) oder in das Wahlprogramm der AfD geschaut?
War ein bisschen eine rhetorische Frage, denn wir sind es mittlerweile gewohnt, hin- und wieder wegzuschauen, aber tiefere Beschäftigung mit den Inhalten, dafür haben wir wenig Zeit und Energie. Dauerkrisen, Reizüberflutung, Doomscrolling, unendliche Erschöpfung. Wir informieren uns über Social Media, eventuell Zeitungen, die Tagesschau oder RTL aktuell und unsere liebsten Menschen und gehen davon aus, dass das schon passt. Und so schleicht die Diskursverschiebung, die Mutter aller Probleme und der besorgte Bürger in unseren Alltag. Die Verantwortung für den Rechtsruck konnten wir letzte Woche glücklicherweise einem unglaublichen Egozentriker ohne jegliche Regierungserfahrung zuschreiben und Schwups war unser Gewissen so rein wie das von Christoph Daum (Rest in Power). Die Verschiebung fast aller Themen nach rechts ist aber ein Prozess, dem die Mehrheitsgesellschaft viel zu lange zugesehen hat. Hanau, Halle, NSU. Könnt ihr euch daran erinnern, dass es donnernde Antisemitismusvorwürfe an Menschen gab, die sich auf deutschen Straßen, im Land der Täter, einen gelben „Ungeimpft-Stern“ ansteckten und gegen ihre Unterdrückung mit einem Mob von Rechten und anderen Fanatikern durch die Gegend demonstrierten. Mussten wir uns von diesen Leuten distanzieren. Nein! Das waren Sorgen, die ernst genommen werden mussten.
Die Sorgen der Menschen, die zu Hunderttausenden gegen Faschismus auf die Straße gehen, zählen zumindest in der medialen Darstellung nicht so sehr auf das Konto der besorgten Bürger ein. Deutsche demokratische Politiker haben den Ursprung allen Übels gefunden (Spoiler: es ist der*die*das Fremde, aber nicht exotisch-vanillig, sondern unzivilisiert) und deren besorgte Multiplikatoren (Springer, alles, was sonst noch Quote misst und die deutsche Schutt-Ikone Sophia Thomalla) heben das Thema aufs nächste Level so wie Jeremy Fragrance seine Dancemoves oder Markus Anfang seinen Impfpass. Und der Rest schweigt oder wird nach Mitternacht gesendet, denn Quote macht Adolf Weidel mit einer Kampfrede gegen Windmühlen.
Publikumsbeschimpfung funktioniert sowieso am besten im Auswärtsblock. Wer nicht hüpft, der ist ein Schalker (Kinder lesen mit). Apropos Gelsenkirchen: Die haben sich sehr deutlich positioniert und mit einer sehr anschaulichen Kampagne gezeigt, was Remigration heißen kann. Unser kartoffeliges Selbst rechnet ja nicht damit, dass wir sofort Konsequenzen zu befürchten haben, außer wir sind erkennbar behindert, trans oder irgendwie anders identifizierbar abweichend von der Normgesellschaft. Aber wenn diese Leute es in ein bundesdeutsches Stadion schaffen, dann schaffen sie es überall hin. We are one! Say no to racism! Impossible is nothing, Together! und jetzt kommt gleich Rick Astley singend um die Ecke.
Long Story Short: Wir haben jetzt die Gelegenheit, unserer einenden Märchenerzählung über Fußball neues Leben einzuhauchen. Denn wenn wir mit roten Bäckchen von der Strahlkraft des Fußballs sprechen, die alle Schichten und alle Nationen miteinander vereint, weil auf dem Platz alle gleich sind, dann können wir auch mit ein paar Schichten Pathos die Risse in der Brandmauer kitten. Antifaschismus, wir können es hier auch noch mal übersetzen, heißt „gegen Faschismus“. Faschismus wiederum ist angeblich seit 1945 in Deutschland out. Fußball ist nicht politisch und Frau Weidel ist nicht queer, sondern nur seit 20 Jahren mit einer Frau zusammen. Wer sich nicht Antifaschist*in nennen kann, weil ihm*ihr sofort extreme Röte ins Gesicht schießt, kann es mit Adjektiven wie humanistisch, wertebasiert oder menschenfreundlich versuchen. Denn es ist klar, dass wir in ganz vielen Dingen – auch in der Migrationspolitik – unterschiedlicher Meinung sein können, solange wir uns darüber klar sind, dass wir über Menschen sprechen. Die Haltung, dass jedes Menschenleben einen Wert hat und dass dieser Wert nicht mit dem Geburtsort steigt oder fällt, darf nicht extremistisch sein. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Der gedruckte Satz, für den viele Bäume entwurzelt wurden, hat in der aktuellen Debatte gar keinen Wert mehr. Dabei steht er in unserem Grundgesetz, das gemacht wurde, um „Nie wieder“ mit Inhalt zu füllen und Verbindlichkeit zu verankern. Die Forderung, Schutzsuchende an unseren Außengrenzen abzuweisen, ist menschenfeindlich und undemokratisch, auch weil sie sich nicht an unsere staatliche Grundordnung – unsere Gesetze hält. Der Schutzanspruch, den die CDU, und auch hier übersetzen wir noch mal Christlich Demokratische Union, abschaffen möchte, und uns als Handschlag und Alternative (…) präsentiert, ist eine Lehre aus dem Nationalsozialismus, wir erinnern uns, Täterland.
Übrigens: Die Einschränkung oder Abschaffung des Rechts auf Asyl repariert keine maroden Straßen, schafft keine neuen Wohnungen, niedrigere Mieten oder bessere Löhne. Es ist der Anknüpfungspunkt an die diffusen Sorgen der besorgten Bürger und zeigt, was passiert, wenn Medien ungefiltert den Sprachgebrauch von Antidemokraten übernehmen. Stichwort Migrationskrise.
Was hat das jetzt mit Fußball zu tun, fragt ihr jetzt. Ganz einfach. Nichts und alles. Das haben O-Town schon immer gewusst (auch wenn das jetzt auch keiner mehr hören will, außer ich jetzt gerade). Wir gehen als Gemeinschaft ins Stadion, unser Verein hat einen Ethikkodex und ist Mitglied des DFBs, NOFVs und BFVs, die wiederum wertebasiert arbeiten und sich zur Demokratie bekennen. Unsere Platznachbar*innen im Stadion, unsere Trainer*innen, Spieler*innen, Ordner*innen, unser Servicepersonal, die Geschäftsstelle von Hertha BSC – alle Menschen haben ein Recht auf ein gutes Leben. Und dafür müssen wir unsere Meinung sagen und Haltung zeigen. Und ja, das ist anstrengend. Übrigens der Alltag von vielen Menschen, die in Deutschland leben und immer wieder aufs Neue beweisen sollen, dass sie dazugehören, auch indem sie sich von den Taten einiger Weniger distanzieren.
Spätestens jetzt müssen wir zeigen, dass wir es mit „Nie wieder ist Jetzt“ ernst meinen und zwar jeden Tag und überall. Im Stadion, in unseren Fanclubs, auf Auswärtsfahrten oder in der S-Bahn. Immer. Wenn dieser Text euch nervt, dann überlegt mal, warum. Wenn ihr das alles schon wisst – super, dann erzählt es jemanden, der es noch nicht weiß. Der Austausch ist wichtig, auch wenn es nicht leicht ist, Stammtischparolen zu widersprechen, aber als Herthaner*innen sind wir auf diesem Gebiet Expert*innen.
Wie schnell sich alles ändern kann, wissen wir aus unserer eigenen schmerzlichen Erfahrung. Windhorst, Klinsmann, Bobic – es reicht ein Blick in die jüngste Vergangenheit, um zu sehen, dass am Ende nicht alles so ist, wie es anfangs scheint. Verfassungsfeinde kommen ja auch nicht an die Macht und sagen „Hallo – wir sind die Verfassungsfeinde“, aber das kann Sarah Tacke besser erklären als ich. Überhaupt wäre es schön, wenn Menschen mit Fachwissen mehr Aufmerksamkeit bekommen würden und Leute ihren Qualifikationen entsprechend eingesetzt werden – was macht eigentlich Herthas Kaderplaner so? Hihi.
Was können wir also tun? Uns helfen, uns halten und unsere Haltung nach außen tragen. Wählen gehen. Darüber sprechen. Antifaschismus normalisieren. Zusammenhänge erklären. Lügner auch so nennen. Wenn wir uns füreinander interessieren und den Blick für die Gefühle und Ängste von anderen weiten, wenn wir nicht nach unten treten, wenn wir uns fragen, was uns wichtig ist, können wir Verbindungen aufbauen, Anerkennung geben und müssen vor unseren Unterschiedlichkeiten weniger Angst haben. Union finden wir natürlich immer Scheiße, auch das verbindet.
Für Menschen, die besser auf dem Appell-Ohr hören, hier noch mal zusammengefasst:
Zeigt jeden Tag, was ihr denkt und fühlt. Bittet auch andere Menschen, das zu machen.
Seid mitfühlend. Das bedeutet, ihr versucht zu verstehen, wie sich andere Menschen fühlen.
Seid solidarisch. Das bedeutet, ihr unterstützt andere Menschen, wenn sie Hilfe brauchen.
Wählt Demokrat*innen.
All together now (together)!
Ha Ho He!
Quellen:
Alice Weidel Windräder, Atomkraft und Nordstream und Klimapolitik
Elisa Gez / Alice Weidel hat einen Zweitjob
Faschismus-Laura Melina Berling
FC Schalke 04 / Steht auf, wenn ihr Menschen seid
Gruppenvergewaltigung Merz / Faktencheck Correktiv
Merz Aussagen Insolvenzen / Kanzlerduell / Faktencheck Marc Raschke
Neue deutsche Medienmacher / keine rechten Narrative
Özge Inan / Asylrecht
Piratensender Powerplay Folge 200 / You can’t spell Merz without Mär
Pro Asyl / was das Asylrecht mit den Nazis zu tun hat
Sarah Tacke
Say no to racism
Wahl-O-Mat
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