
Anfang des Jahres haben wir in einem Blog-Post unsere Haltung zu digitalen Wahlen auf den Mitgliederversammlungen von Hertha BSC festgehalten und etwas länger ausgeholt, warum wir glauben, dass die MV, so wie sie jetzt organisiert ist, ein guter und funktionierender Ort des Vereinslebens ist. Wir haben viel Zuspruch zum Artikel erhalten, aber es gab auch Stimmen, die anderer Meinung sind. Auf einige der Argumente möchten wir hier nochmal konkreter eingehen, auch, weil am Sonntag auf der Rückrunden-MV ein ebensolcher Antrag für hybride Wahlen zur Abstimmung steht.
Vergleich mit staatlichen Wahlen
Ein Argument der Befürworter von digitalen Wahlen ist: Die strengen Auflagen für den Schutz und die Sicherheit von Wahlen macht bei staatlichen Wahlen Sinn (da geht’s ja auch um was) – bei Vereinen ist das übertrieben. Marco Wurzbacher, ehemaliges Präsidiumsmitglied von Hertha, kommentiert unter unserem Blog-Artikel: „Ebenso ist eine Wahl in einem Verein weniger mit staatlichen Wahlen, sondern vielmehr mit denen in privatwirtschaftlichen Unternehmen vergleichbar.“ Die Gegenprobe wäre sich zu fragen, ob es nicht genauso abwegig ist, einen Profi-Fußball-Verein wie Hertha, bei dem über 50.000 Vereinsmitglieder (und die von ihnen gewählten Gremien) den demokratischen Auftrag haben, die Arbeit eines Unternehmens, das mehrere 100 Millionen Euro im Jahr umsetzt, mehreren Hundert Menschen Arbeit gibt und in der Stadtgesellschaft und im sozialen Zusammenhalt der Menschen einen wichtigen Platz einnimmt, mit einem privatwirtschaftlichen Unternehmen zu vergleichen. Hertha ist nicht einfach ein Privatunternehmen und es ist nicht einfach ein Verein. Hier geht es richtig vielen Menschen um richtig viel. Warum soll es da also abwegig sein, bei der Sicherheit der Wahlen auf die höchsten Standards zu schauen?
Die Softwaresysteme für digitale Wahlen sind sicher
Die Befürworter digitaler Wahlen sagen, die Systeme seien sicher und robust. Der Vergleich mit dem klapprigen Hertha-Shop-Server in unserem ersten Beitrag war womöglich irreführend. Dann mal vom Grabbeltisch der Trikots der abgelaufenen Saison hochgeschaut: Wie sicher sind denn so allgemein die Softwaresysteme deutscher Unternehmen? Einer Studie des Bitkom (der Branchenverband der deutschen IT-Branche) zufolge wurden im letzten Jahr 81 % aller deutscher Unternehmen Opfer von Cyberangriffen. Ja, die Zahl ist echt. Weitere 10 % vermuten, dass sie angegriffen wurden. Nachts um drei am Kotti Spritgeld abzuheben, ist sicherer als so ziemlich jeder Server eines deutschen Unternehmens. Nein, die Bitkom-Zahlen zeigen nicht, wie oft digitale Wahlen manipuliert werden. Aber sie machen klar, wie alltäglich es in Deutschland ist, Opfer von Datendiebstahl, digitaler Spionage oder Sabotage zu werden. Nur Leute, die solche Systeme verkaufen, können nachts ruhig schlafen, wenn sie behaupten, die seien sicher und robust, weil sie von Hunderttausenden benutzt werden.
Das Beispiel Estland
Estland wird gerne als positives Beispiel für elektronische Abstimmungen genannt. 2005 war es das erste Land, das Online-Wahlen auf nationaler Ebene erlaubt hat. Bei der Entwicklung ihrer Software haben die Esten an vieles gedacht. Der Quellcode ist einsehbar, es wird Ende-zu-Ende verschlüsselt, digitale Signaturen verifizieren die Wählenden, das System ist dezentral, dadurch werden potenzielle Hacks klein gehalten, Stimmen werden vor der Auszählung anonymisiert. Ein Traum aller Digitalwahlfans. Zentrales Element des estnischen Systems sind die digitalen IDs. Vergleichbar mit unseren E-Persos. Das estnische System wurde bisher noch nicht gehackt. Die Persos aber schon. Bei ihnen entdeckten Forschende 2017 gravierende Sicherheitslücken. Und so sind die Persos mit eingebauter Schnittstelle dann auch der Haken, warum das Ganze nicht einfach auf Deutschland übertragbar ist. Denn hier gibt es kein digitales Melderegister und die Chipkarten sind auch nicht weit genug verbreitet. Wenn man dann sieht, wie sicher solche Großprojekte (siehe elektronische Patientenakte) bei uns umgesetzt werden, sollte das noch eine Weile dauern, bis wir diese Option ernsthaft diskutieren können.
Digitale Wahlen erhöhen die Teilhabe
Das vielleicht schwerste Argument der Digitalwahl-Freunde. Wenn Wahlen digital abgehalten werden, können mehr Menschen daran teilhaben. Und das ist am Ende sogar demokratischer. Die erste Frage, die man sich da stellen muss, ist, ob digitale Endgeräte alleine dafür sorgen, dass mehr Menschen an Wahlen teilnehmen können. Es gibt bei ihrer Benutzung technische Hürden, Zugangshürden über die Internetprovider und Hürden, die durch die Softwareinterfaces entstehen. Dazu die ebenfalls erschreckende Zahl der Initiative D21, dass nur 49% der Deutschen über digitale Basiskompetenzen verfügen. Das schränkt die Menge der Menschen, die potenziell von Online-Wahlen profitieren, schon arg ein.
Auf der Suche nach wissenschaftlichen Zahlen zum Effekt von digitalen Wahlen stößt man auf die Sozialwahl. Eine nicht-staatliche Wahl, bei der 52 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen sind, die Organe der Sozialversicherungsträger zu wählen. 2023 wurde dort zum ersten Mal die digitale Abstimmung für knapp die Hälfte der Wahlberechtigten angeboten. Eine echte Online-Wahl, bei der die Abstimmung über digitale Geräte gleichberechtigt neben die Briefwahl trat. Ziel der technischen Umstellung war es explizit, mehr Wahlberechtigte zu erreichen. Das Ziel wurde weit verfehlt. Im Vergleich zur vorherigen Wahl sank die Wahlbeteiligung um 10 %. Nur 7 % aller Wahlberechtigten stimmten digital ab. Und das trotz einer großen landesweiten Kampagne mit großflächigen Plakaten, Online- und Fernseh-Reklame.
Professor Dr. Indra Spiecker, Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Recht der Digitalisierung und Rechtstheorie an der Universität Köln schreibt zur Sozialwahl in der FAZ: „Eine höhere Wahlbeteiligung wird sich über die Einführung einer Online-Wahl kaum erreichen lassen. […] Barrierefreiheit kann über eine Online-Wahl nur in sehr engem Rahmen zusätzlich zu den bestehenden Vorgaben und nur um den Preis erheblicher technischer Ergänzungen erreicht werden. Bei diesen ergibt sich aber das Problem der Vertrauenswürdigkeit in gleicher Weise. […] Eher sollten daher die schon bestehenden Unterstützungsmöglichkeiten beim Wahlakt erweitert werden.“
Die Professorin ist in ihrer Schlussfolgerung eindeutig. So wie Online-Wahlen Zugang erleichtern, so erschweren sie ihn gleichermaßen. Sie empfiehlt stattdessen, den Zugang zu bestehenden Wahlmethoden zu verbessern.
Man kann die katastrophalen Zahlen der Sozialwahl 2023 auch noch drastischer lesen. Das Angebot der vermeintlich einfachen Online-Wahl senkt am Ende die Beteiligung an Wahlen. Wenn die Präsenzwahl nicht mehr die Regel und die digitale Wahl ihr gleichgestellt wäre, würde dadurch das Commitment der Wahlberechtigten sinken. Sie müssen sich keine Zeit freihalten und nicht den Weg durch die halbe Stadt (oder weiter) auf sich nehmen. Die Wahl läuft dann praktisch nebenbei, neben all den anderen Online-To-Dos und Notifications und Messages und Reels, bis sie dann im digitalen Overload untergeht und durch Prokrastinieren genauso verschwitzt wird wie die Anmeldung der neuen Parkplakette.
TL;DR
Die Wahlen der Mitgliederversammlung bei Hertha BSC sind wichtig und deshalb sollten bei ihr die höchsten rechtlichen und technischen Normen gelten. Die Frage der Sicherheit ist immer noch nicht geklärt. Das estnische System kann so nicht auf Deutschland übertragen werden. Es ist keineswegs klar, dass digitale Wahlen auch die Beteiligung an den MVs erhöhen. Digitale Endgeräte, Internetzugang und komplizierte Interfaces schließen ebenfalls Menschen aus. Die Zahlen der Sozialwahl 2023 zeigen, dass sich die Wahlbeteiligung durch Digitalisierung sogar verschlechtert hat. Und die jetzige Form der MV ist nicht perfekt, aber sie ist ein guter Ort der Mitbestimmung im Verein.
Realtalk Hertha BSC
Wir leben in einer Zeit, in der Milliardäre und unfassbar reiche Autokraten mit und durch Software demokratische Ordnung und Organe auf der ganzen Welt zerstören. In den USA passiert das gerade in atemberaubender Geschwindigkeit. Die Hertha BSC GmbH & KGaA ist im Besitz von Multimillionären. Menschen, die ihr Geld mit unethischen Geschäften verdient haben. Es ist bekannt, dass ein vergangener Besitzer von Hertha BSC, ebenfalls Multimillionär, ehemalige Geheimagenten angestellt und Bot-Netzwerke in Sozialen Medien installiert hat, um seinen Einfluss auf Hertha BSC zu erhöhen. Die kriminelle Energie, die diese Menschen aufbringen, um an die Kontrolle des e.V.s zu kommen, ist nicht fiktiv. Die Bedrohung ist echt.
Die Befürworter digitaler Wahlen sagen, sie würden mehr Demokratie bringen. Es steht zu befürchten, dass sie vor allem erstmal mehr Software bringen. Am Ende müssen die Mitglieder der Mitgliederversammlung abwägen. Wie viel gewinnen wir durch digitale Wahlen und was können wir verlieren? Es gibt das Versprechen einer größeren Beteiligung – das gar nicht so sicher ist. Dem gegenüber steht die Gefahr, dass wir Mitglieder alles – den Verein – verlieren, wenn Wahlen zu Gremien, Anträgen und Satzung nicht mehr sicher sind und dass das lebendige Vereinsleben verkümmert, weil die Wahlen nur noch ein weiterer offener Browsertab sind.
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