Irgendwann, nach Jahren, kommt der Moment, wo man mit dem Ex wieder klarkommt. Wo man ihm zuhören kann, ohne dass diese Wut sich regt. Wo man sich ein bisschen wieder erinnert, wie das war: verliebt zu sein.
Mit Sandro und mir, das war Liebe. Er war nicht wie die anderen Fußballer. Er stand so ein kleines bisschen über den Dingen. Manche würden es Arroganz nennen, ich nahm es als ein Zeichen von Intelligenz. Sandro spulte nicht die Fußballerfloskeln ab, wenn jemand ihm ein Mikro hinhielt. Sandro hatte eine Meinung, und oft genug zeigte er einen gewissen hintergründigen Witz. Leute mit Witz haben es ja immer ein bisschen leichter bei mir.
Leute mit Witz, die sich trotzdem 100% reinhauen, sind dann schnell in der engeren Auswahl. Über den Dingen zu stehen, kann dich zum passiven Beobachter machen, nicht so Sandro: Oft genug ließen ihn die Trainer auf der Bank schmoren, oft genug warfen sie ihn erst in der 65. Minute ins Geschehen. Und Sandro, der damals schon die Klasse für Bayern München in sich spürte und damit recht behielt, Sandro klagte nie. Er ackerte. Meckerte. Rumpelte. Und traf. Unvergessen sein Roboter-Torjubel, nachdem er uns in der Försterei in Führung geschossen hatte. Jeder andere Spieler hätte da sein Trademark-Ding draus gemacht. Sandro Wagner stand drüber. Er schenkte uns diesen Jubel einmal, mit einem seiner wichtigsten Tore. Legendär auch sein Auftritt beim Auswärtsspiel in Stuttgart 2014: Sandro wurde wieder spät eingewechselt. Es sah nicht sonderlich gut aus für uns. Und Sandro blieb nur ein paar Minuten auf dem Feld: Holte sich gleich mal die gelbe Karte ab. Köpfte das Siegtor. Holte sich die zweite Gelbe. Ging wieder. Was für ein Typ! Es war, ganz nebenbei, Herthas 1500. Tor in der Bundesliga.
Meine Kumpel*innen und ich, wir feierten Sandro immer hart. Er war einfach ein guter Typ, und er war der Typ Fußballer, dem Fans gerne verfallen: so ein klobiger Kerl mit goldenem Herzen. Zu groß, zu ungelenk. Verstolperte und verpasste so viel. Aber er gab nie auf, er haute sich rein, bis doch noch irgendwann sein Tor fiel. Er war wie einer von uns, den es irgendwie ins Team teleportiert hatte: witzig, großmäulig, fußballerisch unterbegabt. Doch voller Leidenschaft. Wir sangen Lieder über Sandro Wagner. Noch als er zu Darmstadt 98 gewechselt war, bejubelten wir in der Kurve jedes seiner Tore, und er schoss, als Darmstadt ihn spielen ließ, beunruhigend viele Tore. Man sah den Tag näher kommen, da Sandro bei uns im Oly aufkreuzen würde, und noch die schlimmsten Befürchtungen wurden an diesem Tag übertroffen: Sandro wartete bis kurz vor Schluss, immer schimpfend, immer kämpfend. Dann war plötzlich seine Chance gekommen. Sandro schoss uns ab. In der 84. Minute. Und machte dann den Fehler seines Lebens: Er baute sich zum Jubeln vor uns auf, zeigte mit dem Finger in die Kurve, er jubelte uns in die tief getroffenen Herzen hinein.
Später würde er den Aussetzer zu erklären versuchen. Nicht die Ostkurve wollte er dissen, sondern ein paar Meckermäuler im Oberring. Die Kurve hätte ihn immer unterstützt. Aber niemand hörte da mehr hin. Gelb-Rot-Sandro hatte sich, einmal mehr, hinreißen lassen. Und war ein bisschen ungeschickt gewesen. Doch so weit dachte niemand. Der Schmerz war zu groß. Für mich war das der niederschmetterndste Fußballmoment seit Zidanes Kopfstoß. Das erste Mal, dass einer von diesen komischen Fußballprofis mir ein Gefühl echter menschlicher Enttäuschung bescherte. Was war das, Sandro? Warum tust du das? Wir haben dich doch geliebt! Ich schrieb ein Gedicht an jenem Tag, es hieß: Am Tag, als Sandro Wagner starb.
Viele haben ihm bis heute nicht verziehen. Viele haben seine Erklärungen nicht hören oder nicht anerkennen wollen. Viele wollten die Möglichkeit nicht in Betracht ziehen, dass Sandro vielleicht auch ein bisschen noch an uns hing, als er sich vor die Kurve stellte. Gestern war er wieder da. Bei mir im Wohnzimmer. Als Co-Kommentator. Hertha gegen BVB. Und ich habe ihm zugehört, Sandro Wagner. Er machte es besser als viele. Entspannter, witziger, souveräner. Wie einer, der ein bisschen über den Dingen steht. Es tat etwas weh, dass er sich mehr für den BVB interessierte, zunächst. Aber wenn man den leichten Schmerz abklingen ließ, merkte man: Er ist einfach Fan von gutem Fußball. Hätte Hertha ein funktionierendes Topteam, wäre auch sein Herz auch wieder ein bisschen bei uns, oder, genauer: Vielleicht ist sein Herz ein bisschen bei uns. Aber er ist als Kommentator gekommen, nicht als Fan, und nun macht er eben den Kommentator, mit derselben Ernsthaftigkeit und Hingabe, die wir so an ihm mochten.
Der Abend wurde dann grausam. Dortmund zeigte uns, wie viele Welten uns tatsächlich trennen. Warum der Fußballgourmet recht hat, wenn er unser Team als unausgegoren wieder zurückgehen lässt. Doch wenn man hinhörte, ließ Sandro Wagner durchaus etwas durchscheinen: Lobte Marvin Plattenhardts Flanken als mit die besten in der Bundesliga. Wies unaufgefordert auf Herthas gute Jugendarbeit hin. Hatte auch für die Ostkurve warme Worte.
Das war auf eine merkwürdige Weise dann doch ein schöner Abend. Der Ex war mal wieder da. Ich hörte ihm zu. Und merkte: Eine alte Liebe ist doch nichts, das so richtig, richtig kaputt gehen kann.
Ich mag an Sandro Wagner auch die Fussballgeschichte. Einer vom goldenen Jahrgang. Tor im EM-Finale. Dann zu den Bayern. Von Hermann Gerland gewogen und als zu leicht befunden. Durch die halbe Traditionsbundesliga bis zu uns. Derbytor für die Ewigkeit. In Darmstadt richtig was geknipst. Sich auch bei Hoffenheim entgegen aller Spötter behauptet und dann endlich, endlich wieder zu seinen Bayern. Dort Meister, Pokalsieger, Nationalspieler. Da hat einer nie aufgegeben und hat’s am Ende geschafft. Tolle Geschichte.
Und nicht zu vergessen: er hat seine Karriere beendet obwohl er es noch gar nicht gemusst hätte.